„Jede Handlung hat ein Alibi.“

Für viele dürfte es die erste Begegnung mit dem Philosophen und Publizisten Günther Anders (1902–1992) gewesen sein. Doch nachdem Harald Schwaetzer in seinem Vortrag „Überschwelligkeit in Natur und Technik“ das Gespräch mit ihm gesucht hat, könnte er den Teilnehmer*innen der Summer School Naturphilosophie ein Vor-Denker werden. Vordenker einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die wir mehr denn je auszublenden in der Lage sind – und nicht einmal mehr wissen, dass wir sie ausblenden, dass wir blind sind. Anders führt das zurück auf Sachzwänge, auf Korruption, Manipulation und Statistiken. Und zeigt Wege auf, wie wir etwas gegen diese Blindheit tun können. Denn – da schließt sich ihm Schwaetzer an –, er wisse, dass die Welt eine Einrichtung ist, deren Erhalt es wert ist.

Ein Vortragsbericht

Es herrscht betretenes Schweigen im Saal: Der Philosophieprofessor Harald Schwaetzer hat nun knapp eine Stunde lang darüber gesprochen, was wir alles nicht können. Unsere ‚Blindheit‘: Wir können uns einfach nicht vorstellen, was ‚Erderwärmung‘ heißt. Von Günther Anders  nimmt er dafür den Begriff „Überschwelligkeit“. Im Gegensatz zu unterschwelligen Dingen oder Tatsachen ist etwa der Klimawandel so groß, „daß sie die Dimension dessen, was wir als geschichtlichen Zustand auch nur meinen können, hinter sich lassen“. Das schreibt Anders in seinem Aufsatz ‚Über die Bombe‘ mit Blick auf Naturkatastrophen, aber eben auch auf die Tatsache von Atomexperimenten und möglichen Atomkriegen. (Das Atom-Thema begleitete ihn ein Leben lang, wie sein Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly bezeugt, der unter dem Titel Off limits für das Gewissen erschienen ist.)

Schwaetzer vergleicht diese Überschwelligkeit mit einen zu starken Lichteindruck. Wir müssen die Augen schließen, um nicht zu erblinden. Oder: Bei einem zu starken Schmerzenseindruck werden wir ohnmächtig. Überschwellige Phänomene seien nicht mehr wahrnehmbar, wir schließen die Augen, fallen in Ohnmacht. In unserer gegenwärtigen Situation sei dieses Phänomen noch schlimmer, ergänzt Schwaetzer: Inzwischen ist die Überschwelligkeit selbst eine überschwellige Sache geworden. Denn es sei uns nicht einmal mehr bewusst, dass wir in einer überschwelligen Situation steckten. Wir können nicht mehr sehen, in welchen Schwierigkeiten wir stehen und sind statt dessen stets darum bemüht, diesen Zustand weiter zu verdecken. Hierfür wenden wir das bisschen an Phantasie auf, das uns noch bleibt.

Der Vortragende: Harald Schwaetzer
Auf den Spuren von Günther Anders: Harald Schwaetzer, Professor für Philosophie.

Moralische Phantasielosigkeit

Schwaetzer greift für seinen Vortrag häufig auf Zitate aus dem Tagebuch Der Mann auf der Brücke von Anders zurück.  Als dieser 1958 mit dem Flugzeug zum 4. Anti-Atom-Kongress nach Japan reiste, notierte er darin:

„Es gibt eine extreme Phantasielosigkeit, die sich als Wahrnehmungsdefekt äußert. Den Passagieren, die, statt in das ungeheure arktische Nichts hinunterzublicken, überzeugt davon, daß es dort nur nichts […] zu sehen gebe, Karten spielen, denen fehlt eben die Fähigkeit, sich das Wahrnehmbare vorzustellen. […] Sie sind also zu phantasielos, um zu sehen, was sie sehen.

Gerade die Reise im Flugzeug lässt Anders denken, dass jegliche Vorstellung von ‚Ferne‘ annulliert wurde – ja die Ferne selbst annulliert wurde. Wir seien nicht mehr nur Zeit-, sondern Raumgenoss*innen auf dieser Welt. Globalisierung in andere Worte gekleidet. Davon ausgehend spricht Schwaetzer vom ‚gemeinsamem Schicksal‘ aller Menschen und verweist auf die technische Neuigkeit zu Anders‘ Lebzeiten: auf die Möglichkeit, mit Atomwaffen (oder -Unfall) die ganze Welt auslöschen zu können.

Was uns jedoch fehle, sei die  Fähigkeit, uns das vorzustellen. Uns vorzustellen, was die Dinge, die wir technisch herstellen können (Kohlekraftwerk, Atombombe), imstande sind anzurichten. Schwaetzer ergänzt: Gerade die Naturwissenschaften in ihrer blinden Anwendung als Technik bestimme jedoch eine solcher Vorstellungsdefekt. Moralische Fragen seien ausgeblendet, aber eben auch leicht auszublenden.

Gerissene Kettenglieder

Weingläser
„Gerissene Kettenglieder“ am Morgen danach? – by Robert Kasperan (CC BY-NC-ND 4.0).

Das Ausblenden fällt leicht, denn: Der Zusammenhang von ‚Tun‘ und ‚Folge‘ sei nicht mehr ersichtlich. Die „Kettenglieder“ von Absicht, Tat und Effekt sind „gerissen“, wie Anders es nennt. Die heutigen Täter*innen wüssten nicht, was sie tun; zumindest könnten sie es sich nicht mehr vorstellen. So schreibt er in seinem Tagebuch während eines Besuchs in Hiroshima:

„Im Zeitalter der Fernstreckenraketen ist es ja wahrscheinlich, daß überhaupt nichts mehr sichtbar sein wird: Nicht nur nicht der Schläger; nicht nur nicht die Waffe; nicht nur nicht der ‚schlägerlose Schlag‘; nein, da das Verderben ja momentan einschlagen und alles erschlagen wird, noch nicht einmal der Effekt des Schlages.“

Ort von Täter*in und Ort des Opfers fielen auseinander. Dieses Fehlen von er-sichtlichen Zusammenhängen erschwere es, überhaupt etwas als ‚böse‘ zu beurteilen. Nicht nur die Täter*innen, sondern die Handlungen selbst erhalten damit ein ‚Alibi‘ – ein ‚anderswo‘, wie Schwaetzer den Begriff aus dem Tatort aus dem Lateinischen übersetzt. Früher deutete ein Mangel an schlechtem Gewissen noch auf gutes Gewissen und damit Unschuld hin, zitiert Schwaetzer. Bei gerissenen Kettengliedern könne das so nicht mehr gedacht werden. ‚Gewissen‘ zu haben, müsste jetzt vielmehr heißen: dem eigenen Gewissen zu misstrauen, zu wissen, dass es falsch wahrnimmt. Dass die Übergänge von Tat und Folge eben ‚überschwellig‘ sind, dass wir geblendet sind und den Sinn für die Zusammenhänge verloren haben.

Diese Blendung ist laut Anders auf drei „Techniken der Apokalypse“ zurückzuführen:

  • der „Totalitarismus“ alternativloser Sachzwänge. Wie viel Kraft werde darauf verwendet, Sachzwänge zu schaffen – bisweilen sogar mit sehr viel Phantasie?
  • Korruption und Manipulation: Die Meinungsbildung in der Massengesellschaft sei korrumpiert. Unsere subjektive Freiheit sei eine Täuschung. Wo uns weisgemacht wird, dass wir frei sind, sollten wir misstrauisch werden.
  • Tabelle und Statistik: Jede Tabelle ist gleichgültig gegen ihren Inhalt (10 oder 10.000 Tote?). Jede Statistik präsentiere Tatsachen, als würden sie mit Notwendigkeit aufeinander folgen.

Warum etwas tun?

Alles keine leichte Kost. Doch jetzt aus dem Fenster zu schauen, fällt den Zuhörer*innen auch nicht ein. Zum Glück leitet Schwaetzer kurz vor dem Ende über: Zeit, über unsere Aufgaben zu sprechen in dieser Situation von ‚Überschwelligkeit‘ und ‚gerissenen Kettengliedern‘. Was können wir tun gegen unsere Apokalypse-Blindheit? Warum sollten wir überhaupt etwas tun? Auf zweitere Frage greift Schwaetzer eine Passage von Anders auf:

[Ich weiß,] „daß die Welt eine ingeniöse und unvergleichliche Erfindung ist, eine Einrichtung, die der Erhaltung wert ist. Und daß, in ihr dazusein, Spaß macht. Und daß ich die Menschen, die ebenfalls da sind, gerne habe. Und daß mir der Gedanke, daß alles was sie an Leiden und Freude durchgemacht haben und durchmachen vergeblich gewesen sein soll, und daß die Erde künftighin als verödeter Ball durch die Einöde des Weltalls kugeln solle, höchst unangenehm ist. Mir sogar die Kehle zuschnürt.“

Das sei doch jetzt einmal eine Begründung, fügt der Vortragende diesen Worten nur hinzu.

Aufgaben für die Gegenwart

Wenn uns diese Welt also etwas wert ist, brauche es eine Verwandlung der Moral. Zunächst einmal erfordert das die Einsicht in die Schwierigkeiten, die Probleme von Dasein und Handeln. Hier kommt wieder die ‚Wahrnehmungsfähigkeit‘ ins Spiel, von der Schwaetzer tags zuvor bereits gesprochen hat: Wirklichkeit sei nicht einfach da und gegeben. Vielmehr sei es eine Fähigkeit, sie in ihrer Vielschichtigkeit überhaupt erst zu erzeugen. Dabei geht es nicht zuletzt auch darum, wieder Zusammenhänge herzustellen, die Kettenglieder zu flicken.

Wie mit der Überschwelligkeit von Tatsachen umzugehen ist? Es brauche die Ausbildung eines ‚Ich‘, das die Überschwelligkeit nicht nur als solche erkennen, sondern auch in ihr zu stehen vermag. Dieser Schwaetzersche Gedanke ruft zum Nach-Denken darüber auf, wie ein solches Ich beschaffen sein kann und müsste. Dass es möglich ist, daran scheint der Vortragende nicht zu zweifeln: Wir sind nicht nur gewordene Kulturwesen – als solche haben wir an Fähigkeit zur Wahrnehmung eingebüßt. Nein, wir sind auch werdende Wesen, uns selbst erzeugende ‚Ich-e‘. Als solche können wir uns gemeinsam der Herausforderungen der Gegenwart annehmen.

Zum Abschluss bemüht Schwaetzer hierfür das Bild eines Orchesters. Wie Anders schätzt auch er die Musik als Feld der Übung. Unser gemeinsames Schicksal erfordere es mehr denn je:  zu lernen, ein Stück gemeinsam zu komponieren – gemeinsam zu denken –, es zu dirigieren – die Teile in einen Sinnzusammenhang zu stellen – und selbst zu spielen. Wie gut, dass es während der Summer School auch zwei Konzerte gibt, wo dies ganz praktisch wahrgenommen und geübt werden kann.