Für einen Sammelband-Beitrag lese ich derzeit alle Schriften von Heinrich Simon Lindemann, die ich in die Hände bekommen kann. Nie gehört? Kein Wunder: Lindemann (1807–1855) war Professor für Philosophie in München und ist bis heute ein ziemlich unbekannter Kopf geblieben. Wenn er Erwähnung findet, dann als Schüler von Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832). Dieser Krause wurde noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts hin ähnlich stark rezipiert wie Schelling und Hegel, hatte jedoch anders als diese nie eine Professur für Philosophie inne. Es geht sogar das Gerücht um, Schelling habe eine solche für Krause in München zu verhindern gewusst.
Nun hat besagter Lindemann nach der ersten Begegnung mit Krause nicht nur sein Studienfach von der Jurisprudenz nach der Philosophie verlegt, er verfasste 1839 auch eine Uebersichtliche Darstellung des Lebens und der Wissenschaftslehre Carl Chr. Fdr. Krause’s und dessen Standpunktes zur Freimaurerbrüderschaft und viele weitere Schriften zur Entwicklung von Krauses Prinzipien und Einsichten. In Lindemanns Beschreibung von Krauses Leben und Denken sind es nun weniger die philosophischen Rafinessen, die mich beschäftigten und beschäftigen – ohne Zweifel interessant, im Gottesbegriff, im Denkbegriff – als vielmehr Krauses Leben, das doch ein paar Züge hat, die Stoff zum Nachdenken geben.
Erstens war Krause so gut wie sein ganzes Leben hindurch, wenige Zeit vor seinem 14. Lebensjahr ausgenommen, sehr krank. Nicht dass ihn dabei ein bestimmtes Leiden das ganze Leben hindurch plagte, sondern dass er schon als Kind kränklich und schwach, dann von Kinderkrankheiten gezeichnet mit schweren Wahnträumen von Jugend auf sein Leben lang Zustände seelischer wie körperlicher Beengung verfolgten, die sich unter anderem in wiederkehrenden starken Kopfschmerzen äußerten. Verstärkt wurden die körperlichen Leiden durch die unermüdliche Arbeit, teils mit Nachtschichten. Man führe sich nun einmal vor Augen, dass Krause Schriften und Vorlesungen in einer dermaßen großen Zahl hinterlassen hat, dass ich versucht bin zu meinen, dass er diese mit einem großen ‚Trotzdem‘ seinem Leiden gegenüber in die Welt gestellt wissen wollte.
Zweitens hatte Krause schon früh das Ziel, wissenschaftlich zur Entwicklung der Menschheit zu wirken, studierte in Jena bei Fichte, habilitierte sich an mehreren Universitäten als Privatdozent – weil er jedoch in frühen Jahren im Auftrag der Freimaurerbrüderschaft eine Schrift über Freimaurerei verfasst hatte, die nicht durch und durch positiv konnotiert war, verhinderten die Brüder der Logen an vielen Orten und Ämtern sein Weiterkommen. So hatte er neben seinen wissenschaftlichen Vorhaben stets darum zu kämpfen, seine Familie zu ernähren und sich ohne feste Anstellung in Notlagen mit neuen Schriften oder Kollegien durchzuschlagen – ein ganzes Leben hindurch, das von Krankheit gezeichnet war.
Nun lässt sich, zumal mit der wenigen Kenntnis, die ich habe, keine Aussage darüber treffen, was aus Krause hätte werden können, hätte er nicht so mächtige Feinde oder an einer Stelle doch mehr Glück als nur Not vorzuweisen gehabt. Über Krauses Leben hinaus stelle ich mir jedoch die Frage, inwiefern Widrigkeiten – seien sie nun körperlich-seelischer Art wie Krankheiten oder äußere widrige Umstände – womöglich gar dazu beitragen, umso energischer und willensstärker die eigenen Überzeugungen zu verfolgen und zu schaffen. Nicht dass sich darüber eine allgemeine Aussage treffen ließe, doch fällt mir immer wieder mit Blick auf mein eigenes Leben auf, dass schon kleine Widrigkeiten auf die Kräfte und eine weniger verhindernde als verstärkende Wirkung haben können. Wenn ich etwa für alles unendlich viel Zeit habe, komme ich meist zu sehr wenig – weiß ich hingegen meine Zeit beschränkt, so vermag ich häufig, viel besser damit zu wirtschaften. Oder: Leide ich an eigentlich so geringem Übel wie abendlicher oder morgendlicher Müdigkeit, wird der Ertrag umso größer, wenn ich es schaffe, diese durch Tätigkeit selbst zu überwinden. Wo Bequemlichkeit vorherrscht, wird auch die Seele bequem.
Darüber hinaus, und das ist das weitere, das mich beschäftigt bis angespornt hat, ist die unermessliche Liebe und Hingabe, die Krause auf die Wissenschaft verwendet hat – und das hat meines Erachtens etwas damit zu tun, dass er die Wissenschaft (wie er sie versteht, im Sinne J.G. Fichtes) als Möglichkeit, überhaupt etwas zu erkennen und sein und das Leben aller Menschen dementsprechend auszurichten. Die Menschen auf der Erde sind ihm auch nur ein Teil der Menschheit und haben hier ihre Aufgabe zu erfüllen. Das erscheint mir sofort unmittelbar einsichtig. Es gibt also zu tun und ich bin diesem kleinen Aufsatz dankbar für die Erinnerung daran, zu wissen, was ich tue und warum ich es tue. Zu oft kommt mir die Frage, welche vor allem äußeren Bedingungen erfüllt sein sollten, um gut arbeiten zu können. Sicherlich spielt diese Frage eine Rolle – doch vielleicht sind gerade Widrigkeiten wie eine Abgabefrist, eine Zugfahrt oder ein geteiltes Zimmer, eine Maske vor dem Gesicht in der Bibliothek oder eine unüberschaubare Textfülle der rechte Ansporn zum Arbeiten.
Vielleicht ist also gerade unsere in mancherlei Hinsicht so widrige Zeit mit ihren Umständen also auch etwas, das im Innern ein Feuer zu entfachen vermag, das Eigene zu verfolgen und dem Widrigen, Innen wie Außen, etwas Höheres entgegenzustellen.