Missverständnisse auf dem Weg zur Freiheit

Was schwingt mit, wenn wir ‚Freiheit‘ sagen? Sprache ist verräterisch. Sie verrät, woran selbst die Ungläubigen glauben. Daher wollen wir an dieser Stelle genauer hinsehen. Wir sagen: meine Freiheit, mich zu entscheiden, der ‚freie Mensch‘, die ‚Willensfreiheit‘. Doch mit diesen Ausdrücken sind viele Vor-Urteile verbunden. Fragen wir den Philosophen Heinrich Barth: Wovon (sollten) wir reden, wenn wir von ‚Freiheit‘ reden?

Das ist der zweite Teil einer Reihe über Kausalität und Entscheidung. Im ersten Teil: Wie geht das Prinzip von Ursache und Wirkung in der Natur mit der Freiheit des Menschen zusammen, wenn wir den Philosophen Immanuel Kant fragen? Jetzt wollen wir unseren Denk- und Sprechgewohnheiten rund um ‚die Freiheit‘ mal gründlich auf den Zahn fühlen.

Menschen sind frei!

Gerne schreien wir unsere ‚Freiheit‘ so in die Welt: Jede*r ist frei, sich zu entscheiden – also die eigene Freiheit für eine Entscheidung zu gebrauchen. Gerne schreiben wir uns Freiheit als Eigenschaft zu, als eine unzerstörbare, bleibende Eigenschaft. Wir sagen vielleicht: Freiheit liegt doch im ‚Wesen‘ des Menschen, in unserer ‚Natur‘. Der Mensch ist frei, sich zu entscheiden. Na und?

Als Denkortreiniger*in für diesen Artikel schlage ich den Basler Philosophen Heinrich Barth (1890–1965) vor. Am Ende seines Buches über den Kirchenvater Augustinus setzt er sich mit der Idee der ‚Freiheit des Menschen‘ auseinander (Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins (= A), 1935, Kap. VIII) – für unsere Zwecke auf sehr aufschlussreiche Weise. Wenn wir vom ‚freien‘ Menschen reden, klingt das wie eine Auszeichnung. Wir wollen nicht in ‚Unfreiheit‘ leben, womit wir göttliche Vorbestimmung oder Naturgesetze im menschlichen Handeln verbinden. Lieber sind wir immer und stets ‚frei‘. Hach, das klingt gut! Doch egal, ob wir uns nun generell ‚frei‘ oder ‚unfrei‘ nennen – Heinrich Barth hat eine Frage (A 191): „Wer ist aber ‚der Mensch‘, von dem eine derartige Aussage gemacht werden dürfte?“ Abgesehen davon, dass wir ‚den Menschen‘ noch nicht zu Gesicht bekommen haben, werden damit wohl alle Menschen gemeint sein. Egal ob ‚frei‘ oder ‚unfrei‘: Wir müssten schlüssig dafür argumentieren, dass Menschen eben immer und stets frei sind. Oder eben nicht. Beides ist gar nicht so leicht, versuch es doch einmal mit dir selbst oder Menschen um dich herum.

Freiheit soll auf dem Spiel stehen!

Warum ist es so schwer, zu beweisen, dass alle Menschen frei sind? Vielleicht, weil wir das gar nicht wollen. Wenn alle Menschen immer frei in der Welt stehen, dann hätten wir eine Freiheit, die niemals auf dem Spiel steht. Eine solche Freiheit wäre fest im Menschen verankert und keine heikle Angelegenheit in jeder neuen Situation. Wir können kaum beweisen, dass jeder Mensch immer frei ist – und wir wollen das gar nicht sagen, denn es entspräche kaum unserer Lebenserfahrung. Naheliegender wäre es doch, nur dann von Freiheit zu sprechen, wenn wir uns ‚frei entscheiden‘! Dann wäre Freiheit keine Qualität des Menschen, sondern „offene Frage eines jeden Augenblicks“ (A 192). Was steckt in diesem Zitat? Freiheit ist keine Tatsache, sondern eine Frage. Eine Frage, um die wir in jeder entscheidenden Situation neu ringen müssten, eine offene Frage.

Daraus lässt sich folgern: Die Freiheit, um die es uns geht, meint eine „Qualitätsbestimmung“ (A 183) der Entscheidung selbst. Wenn wir von Freiheit sprechen, können wir das nur sinnvoll tun bezogen auf eine konkrete Entscheidung. Es geht also bei der Freiheit um die Entscheidung – und nicht um die (absolute und dauerhafte) Freiheit des Menschen für eine Entscheidung.

Sprung zwischen Containern

Der freie Wille!

Wir könnten entgegnen: Wenn schon nicht alle Menschen, so ist doch wenigstens der Wille immer frei. ‚Willensfreiheit‘, davon hören wir oft. Was könnte damit gemeint sein? Ein freier Wille – ist prinzipiell frei für  eine Entscheidung. Ähnlich wie schon beim ‚freien Menschen‘ fällt auf: Wir schreiben hier dem Willen eine feste ‚Fähigkeit‘ als Eigenschaft zu. Ich kann mich ohne Einschränkung für das entscheiden, was ich will. Damit der Wille nicht immer und stets ‚frei‘ sein muss, gibt es sogar eine gängige Erklärung, wenn der Wille mal nicht so frei ist: Willensschwäche! Zugegeben: Das klingt alles ein bisschen zurecht gedacht mit der Willensfreiheit.

Das freie Ich!

Neben der ‚Freiheit des Menschen‘ und der ‚Willensfreiheit‘ bleibt uns noch das ‚freie Ich‘. Die Idee ist leicht nachzuvollziehen: Wenn ich an ‚Entscheidung‘ denke, so denke ich an all die Entscheidungen, die ich im Leben schon getroffen habe – oder nicht getroffen habe: die Entscheidung, die Hausaufgaben (nicht) zu erledigen, die ‚Entscheidung‘ für eine Ausbildung oder ein Studienfach, die ‚Entscheidung‘ für einen Partner. In all diesen Fällen verstehe ich mich als ein (und dasselbe) ‚Ich‘, das sich entschieden hat oder entscheidet.

Wie können wir das sinnvoll denken? Zunächst ist es wieder wichtig, wie wir den Begriff ‚Freiheit‘ hier verwenden: Wie schon beim Menschen und beim Willen schreiben wir einem ‚Ich‘ (?) ein bestimmtes ‚Können‘ zu: die Fähigkeit einer Wahl-Entscheidung. Dabei schwingt mit: Das Ich kann hier den ‚Ausschlag‘ geben (wie ich es im ersten Beitrag dieser Reihe auch geschrieben habe).

Für diese Wahl-Entscheidung sehe ich mich als individuelles Ich bestimmten Möglichkeiten gegenüber und bin frei, mich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Mein Ich steht gewissermaßen draußen, vor den Möglichkeiten und sieht sich sich in Ruhe an. Zack, irgendwann weiß ich es. Dann ‚treffe‘ ich eine Entscheidung, ich entscheide. Es ist an der Zeit, nun auf den einen oder anderen Zug aufzuspringen, liebes Ich!

Entscheidung ist keine ‚Veranstaltung‘

Dieses Bild der Wahl-Entscheidung bringt eine Vorannahme mit, die sich nicht ganz unproblematisch ist: Wir denken das Ich als ‚Ursache‘ der Entscheidung. Denn wir sind es gewohnt, eine Entscheidung zu zerlegen in (a) eine Ursache der Entscheidung und (b) die Entscheidung selbst.

Üblicherweise denken wir bei der Ursache der Entscheidung an ein Subjekt, das eine Entscheidung macht. Jemand muss sich ja entscheiden! Traditionell hätten wir für diesen ‚Jemand‘ auch noch Gott zur Auswahl. Wenn wir Gott mal ausschließen, bleibt nur das individuelle Ich, es sieht aus wie der „Veranstalter“ (A 196) der Entscheidung. Die Entscheidung selbst wird zu einer bloßen „Veranstaltung“ (A 197). Mit dieser Zerlegung verschieben wir den Schwerpunkt der Entscheidung weg von der Entscheidung selbst zurück auf ein ‚Ich‘, das die Entscheidung als Ursache ‚veranstaltet‘. Das passt: Beim Ich verorten wir auch die ‚Freiheit‘, wenn wir ‚freies Ich!‘ rufen.

Wie sieht ein solches ‚Ich‘ aus? Ein Ich vor jeder Entscheidung oder als Veranstalter der Entscheidung anzunehmen, bringt mit sich, das ‚Ich‘ als etwas ‚Neutrales‘ im Hinblick auf die Entscheidung anzunehmen. Das Ich ist einfach (und dauerhaft), es hat noch keine klare Richtung. Sonst würden wir es ja nicht ‚frei‘ nennen!

Das Ich: frei, aber unmotiviert?

Schwierig ist dabei: So schön so ein freies Ich klingt, es steht gewissermaßen ‚draußen‘, den Wahl-Möglichkeiten gegenüber. Doch: Wenn wir ein individuelles Ich denken, so können wir es gerade nicht als ‚neutral‘ denken. Das individuelle Ich ist nur in der Entscheidung selbst denkbar, darin hat es immer schon eine Position bezogen. Ein Ich ist nur mit einer (oder mehreren) Richtung(en) denkbar, sagt Barth:

„Wir kennen kein individuelles Ich, das nicht in der Entscheidung selbst existieren würde. Denn wir kennen auch keine ‚innerste Region‘ der Existenz, in der nicht so oder so die Richtung eines Weges eingeschlagen würde.“

A 197, eigene Hervorhebung.

Ein ‚Ich‘ ist – wenn dann – also nur ‚in‘ der Entscheidung. Das individuelle Ich ist nichts, das sich bestimmten Möglichkeiten gegenüber sieht und sich dann nach der einen oder anderen Seite entscheidet. Weil Barth das so treffend ausdrücken kann:

„[Das Ich] existiert in der motivierten Entscheidung des Augenblicks und ist weit davon entfernt, sich ‚unmotiviert‘ zu diesem oder jenem Motive frei wählend zu entscheiden.“

A 198.

Wir müssen sehen, ob sich dieses Verständnis vom ‚Ich‘, das nicht neutral und nur im Entscheiden ist, durchhalten lässt. Vorerst wollen wir die Rede von einem ‚freien Ich‘ mit Vorsicht genießen.

Die Würfel fallen in der Entscheidung

Barth bringt ein Beispiel (A 197): Ich entscheide mich dazu, etwas Böses zu tun. Wenn wir Entscheidung nur als ‚Veranstaltung‘ eines Ich denken, so müssen wir nicht mehr die entscheidende Handlung betrachten, sondern das ‚Ich‘, das sich entschieden hat. Es sieht aus wie: „In ihm, der es getan hat, sind jetzt die Würfel gefallen“ (A 197). Wenn wir weg von einer bösen Handlung auf etwas anderes zurück-blicken, so kann dieses andere nur noch ‚indirekt‘ böse sein. (Im Vergleich zur Handlung ist das ‚Ich‘ ein ziemlich schwer fassbares Ding.)

Wichtig ist hierbei die Würfelmetapher: Erst in der Entscheidung, nicht irgendwo im Ich „fallen die Würfel“. Es wird also höchste Zeit, dass wir uns die Entscheidung mal genauer ansehen. Darum wird es im nächsten Teil dieser Reihe gehen. Zum Abschluss lasse ich noch einmal unseren Denkortreiniger Barth sprechen, von dem so viel in den obigen Abschnitten steckt:

„Es gibt kein ‚freies‘ individuelles Ich. […] In solchem ich wäre die Frage der Entscheidung wenigstens potenziell jederzeit schon zum voraus beantwortet. Denn es ‚kann‘ sich ja jederzeit entscheiden. Zu Unrecht wird aber durch solchen Freiheitsbegriff die schwere Frage der Entscheidung leicht gemacht. […] Die Frage der Entscheidung ist keine geringfügige, schon vor der Entscheidung potenziell beantwortete und damit harmlos gewordene Frage. Sie ist die schwer zu beantwortende Freiheitsfrage, die nur in der unverfügbaren Entscheidung des Augenblicks beantwortet wird.“

A 193, eigene Hervorhebung.