Wahrheit im Journalismus: Was kann das bedeuten?

„Die Regel ist das redliche Bemühen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit“, so Ullrich Fichtner in seiner Rekonstruktion der Fälschungen des Spiegel-Reporters Claas Relotius. Schön, schön. Doch Journalist_innen müssen endlich auch diskutieren, was sie unter der „Wahrheit“ verstehen, wie sie in Presse-Ethiken und Nachwuchsseminaren geheiligt wird – und so mancher Selbstkritik vorangestellt wird. Wer die Debatte darüber scheut, überlässt die Deutung anderen.

Sagen, was ist – dieser Leitspruch des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein wird viel zitiert in diesen Tagen. Ehrwürdig prangt er in der Halle des Spiegel-Hauses in Hamburg. Relotius wird in seinen Jahren beim Spiegel vermutlich mehr als einmal vorbeigelaufen sein. Der Spiegel produziert einen Podcast mit diesem Namen. Das neue Titelbild zeigt den Slogan großflächig vor rotem Spiegel-Hintergrund. Mensch ist stolz darauf beim Hamburger Nachrichtenmagazin. Doch unter dem Hashtag #sagenwasist berichten Journalist_innen auch vom Druck, kreativ zu schreiben. Und Quellen melden sich zu Wort, die nie mit der Presse gesprochen hatten.

Noch stehen wir am Anfang der Debatte. Lasst uns diese Debatte nicht über die heeren An- und Leitsprüche hinweg, sondern auch und gerade über diese zu führen. (Wünschenswert ist auch, dass wir uns dabei nicht nur über ‚Fake News‘ unterhalten.)

Atrium des Spiegel-Gebäudes mit der Wand-Inschrift
„Sagen, was ist“ im Atrium des Spiegel-Gebäudes | (c) DER SPIEGEL/Zooey Braun (Ausschnitt)

Zwischen Berufsalltag und Berufsethos

Kein Zweifel, Journalist_innen müssen in einem Zwiespalt leben. Auf der einen Seite sind es die Erfordernisse des Alltags: Zeit- und Gelddruck in Redaktionen, die Abhängigkeit von Werbeeinnahmen und vielen Seitenaufrufen. Das hat eine gewisse (Wahrheits-)Praxis etabliert, die nur in Krisensituationen hinterfragt wird: Faktenchecks, Zwei-Quellen-Prinzip, die angekündigte Kommission beim Spiegel. Sicher alles sinnvoll. Doch die Frage, was wir unter Wahrheit, Wirklichkeit und Fakten selbst verstehen können, bleibt dabei noch im Hintergrund.

Nun hat Relotius auch von der Angst vor dem Scheitern gesprochen. Denn auf der anderen Seite sind da die großen Vorbilder – auch Relotius wurde bei jüngeren Journalist_innen zunehmend ein solches. Und es gibt verfasste Leitbilder, über die Beschwerdeausschüsse des Presserats in Deutschland wachen. Und dort wird mit der ‚Wahrheit‘ nicht gegeizt:

„Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“

Deutscher Presserat (Hrsg.), Pressekodex, Ziffer 1 (Auszug).

Journalist_innen haben der Wahrheit zu dienen, diese Forderung füllt auch in der Relotius-Debatte die Kommentar-Spalten. Auch in der Schweiz steht die Wahrheit an erster Stelle des brancheneigenen Leitbildes:

„Sie halten sich an die Wahrheit ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren.“

Schweizer Presserat, Erklärung der Pflichten der Journalistinnen und Journalisten, Punkt 1 .

Achtung vor der Wahrheit – kein geringer Anspruch. Doch was kann das bedeuten? Der Schweizer Presserat versucht sich an einer Erklärung zur Erklärung:

„Die Wahrheitssuche stellt den Ausgangspunkt der Informationstätigkeit dar. Sie setzt die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten (Text, Ton und Bild), die Überprüfung und die allfällige Berichtigung voraus.“

Schweizer Presserat, Richtlinien zur Erklärung der Pflichten und Rechte, Richtlinie 1.1 – Wahrheitssuche (Auszug)

Information? Verfügbare und zugängliche Daten? Das erinnert mich zunächst an Computer und Studien. Vielleicht mag es an dieser Stelle helfen, doch ein wenig Zeit auf die Begrifflichkeiten zu verwenden.

Wahrheit und Wirklichkeit, Datum und Faktum

Sprache, Zahlen, Gefühle, Beobachtungen: Rudolf Walter Leonhardt hat 1976 in der Zeit einmal zusammengetragen, was alles zur Frage der Wahrheit im Journalismus zu diskutieren wäre. Eine ganze Menge. Leonhardt hat auch ein Buch darüber geschrieben: „Journalismus und Wahrheit“. Für den Journalismus sei es essentiell, das zu klären:

„Ohne eine einigermaßen fest umrissene Vorstellung von ‚Wahrheit‘ kann es Journalismus gar nicht geben, weil es ohne eine solche Vorstellung überhaupt keine Kommunikation geben kann, und erst recht keine ‚Massenkommunikation‘“.

Wo wollen wir anfangen? An dieser Stelle sollen ein paar Andeutungen genügen: Wahrheit und Wirklichkeit – im Lateinischen gibt es dafür ein Wort: ‚veritas‘. Vielleicht wird es uns also helfen, die beiden Begriffe gemeinsam zu diskutieren.

Wenn wir von ‚Fakten‘ sprechen, schwingt dabei auch eine lateinische Herkunft mit: ‚factum‘ bedeutet ‚gemachtes‘ oder ‚das, was getan wurde‘. Doch nicht nur ‚facts‘, sondern auch das ‚fake‘ in ‚fake news‘ entstammen dieser Wurzel. Weiter oben war auch die Rede von ‚Daten‘, was etwas technisch klang. ‚Datum‘, lateinisch: etwas, das gegeben ist oder gegeben wurde. Und wenn wir schon über Medien reden: Ein ‚Medium‘ ist ein ‚(Ver-)Mittelndes‘, eine Übertragung (von Worten, Bildern – Vorstellungsinhalten), zwischen Menschen.

Daran ließen sich wohl einige Debatten anschließen. Lösung in Sicht? Keineswegs, wir stehen noch am Anfang. Mit einer Verständigung über die vielerorts propagierte Wahrheit wäre jedoch schon etwas gewonnen. Denn das ganze Unterfangen ‚Journalismus‘ bringt erkenntnistheoretisch einige brenzlige Fragen mit sich: Was ist denn nun ‚wirklich‘ – oder wie wirkt etwas ‚wirklich‘? Was macht etwas wahr? Dass ich es gesehen habe – oder brauche ich eine Fotografie davon? Daten und Fakten – wer oder was ist gegeben, wer hat etwas gemacht? Einer solchen Diskussion sollten sich Philosoph_innen, Kommunikationswissenschaftler_innen und Journalist_innen gemeinsam annehmen.

Zeitungsstapel
Ein Stapel Wahrheit?

Distanz und Vertrauen

Wenn wir schon dabei sind: Es gibt noch so einen Spruch, den sich Journalist_innen gerne an die Fahnen schreiben. Er stammt aus einem Interview mit dem Moderator und Tagesschau-Sprecher Hanns Joachim Friedrichs. Wie er damit umgehe, dass er „ständig den Tod präsentieren muss“, wurde Friedrichs gefragt. Das habe er gelernt: „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein.“ – Mach dich nie gemein mit einer Sache, suche auch Argumente für die Gegenseite. Viele, die schreiben, haben das so eingetrichtert bekommen. Es ist auch so eine Wahrheits-Praxis. Friedrichs Worte, irgendwie in einem etwas anderen Kontext geäußert, müssen dafür eben herhalten. Auch ein nach ihm benannter Preis verkündet das Zitat etwas ‚verändert‘ großflächtig auf seiner Internetpräsenz. Hauptsache, es wirkt.

Warum rät Friedrichs zur dieser Distanz, wohlgemerkt gegenüber emotionalen Themen? „Nur so schaffst du es, daß die Zuschauer dir vertrauen, dich zu einem Familienmitglied machen, dich jeden Abend einschalten und dir zuhören.“ Es geht hier also um Vertrauen. Doch nicht erst seit dem Fall Relotius ist es mit dem Vertrauen in die Arbeit von Journalist_innen nicht sonderlich gut bestellt. Der Fall Relotius ist nun ein „bizarres Weihnachtsgeschenk für all jene, die den Medien ohnehin das Schlimmste unterstellen“, wie Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo im neuen Spiegel sagt (Nr. 52, S. 49).

Ablehnung und Zuspruch

Im Kollegen- und Freundeskreis beobachte ich schon seit einiger Zeit statt kritischer Distanz eher zunehmend eine grundsätzliche Ablehnung der Arbeit der klassischen Medien. Oftmals erzähle ich dann von den wenigen Journalist_innen, die ich in Berlin und Brüssel kennengelernt habe: wie entschlossen sie für die Aufdeckung von Missständen eintreten, dass sie nachdenklich sind über ihre eigene Rolle und sorgfältig und gewissenhaft arbeiten. Sei’s drum. Ich höre, wir leben in „postfaktischen Zeiten“. Und „alternative Medien“ genießen mancherorts uneingeschränktes Vertrauen. Ähnliches Vertrauen, wie es vielleicht vor wenigen Jahrzehnten noch die Tagesschau für sich beanspruchen konnte. 20 Uhr, wir sagen, was ist.

Vielleicht hat Claas Relotius mit seinen Fälschungen Wasser auf die Mühlen der Kritiker_innen gegossen. Doch auch beim Spiegel wie in anderen Redaktionen lief – und läuft – nicht alles glatt. Endlich sprechen wir darüber! Denn Journalist_innen sind sie diejenigen, die unsere Vorstellung von Wirklichkeit immer noch prägen, vor allem diejenige jenseits unserer Alltags-Welten. Ohne ihre Berichterstattung aus Parlamenten, Krisengebieten und entlegenden Gebieten dieser Erde, ohne diejenigen, die Nachrichten auswählen und aufbereiten, senden und archivieren, wüssten wir eine ganze Menge weniger. PanamaPapers, CumEx – an wen können sich Whistleblower_innen sonst wenden?

‚Mission Wahrheit‘ heißt die Dokumentation über die New York Times-Berichterstattung über Donald Trump auf deutsch. ‚Die Wahrheit‘ – sie mag als Leitstern der Arbeit von Journalist_innen herhalten. Viele von ihnen können und konnten auch arbeiten, ohne in philosophische Tiefen möglicher Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriffe abzutauchen. Ein klein wenig Selbstaufklärung könnte wohl dennoch nicht schaden. Denn ein unkritisch vorangestellter Wahrheitsbegriff wirkt nicht nur arrogant. Wer die Debatte darüber nicht führt, überlässt die Deutung anderen. Vielleicht lässt sich in so einer Debatte auch vieles gewinnen.